ISBN: 3857872721
Von Heinz Hug
Was veranlasst einen libanesischen Autor, seinem japanischen Kollegen Yasunari Kawabata einen Brief zu schreiben, zwanzig Jahre nachdem dieser sich das Leben genommen hat? Und diesem Brief dadurch eine besondere Bedeutung zu geben, dass er den daraus entstandenen Roman mit dem Titel «Lieber Herr Kawabata» versieht?
Der Autor heisst Raschid al-Daïf, wurde 1945 in einer Kleinstadt in Nordlibanon geboren, begann während des Bürgerkriegs zu schreiben und lehrt heute an der libanesischen Universität in Beirut arabische Literatur. «Lieber Herr Kawabata» ist al-Daïfs sechster Roman und liegt seit kurzem in einer Übersetzung von Hartmut Fähndrich auf deutsch vor.
Die Erzählsituation des Romans wird noch durch ein anderes, zunächst rätselhaftes Element bestimmt: Als Anlass für seinen «Brief» gibt der Ich-Erzähler – er nennt sich Raschid – eine Begegnung auf der Hamra-Strasse in Beirut an, bei der er sich selber zu sehen vermeinte.
Mit Geburt und Kindheit Raschids beginnt der Roman. Die Familie gehört zu den maronitischen Christen, die noch die Blutrache kennen, der später der Vater zum Opfer fallen wird. Die starke Identifikation der sozialen Umwelt mit ihrer traditionellen Kultur bringt für Raschid Konflikte, als er in der Schule das kopernikanische Weltbild kennenlernt. Trotz der Gewalt, die der Vater gegen ihn und seine Vorstellung ausübt, lässt sich Raschid vom Weg des Lernens und der Erkenntnis nicht abbringen, zumal ihn die Mutter – ihre Stimme liest sich als ein Gegendiskurs zum patriarchalischen – unterstützt. Sie möchte, dass die Schulbildung ihn davor bewahre, einstmals wie sein Vater ein Leben als armer, rückständiger Bauer zu fristen. So liest sich der erste Teil des Romans – auch wenn der Text weit über eine realistische Darstellung hinausgeht – als eine höchst eindrücklich und einfühlsam geschilderte Lebensgeschichte, die auch den Bürgerkrieg und dessen Brutalität verständlicher macht.
Mit Hilfe seiner komplexen Erzählsituation erhält al-Daïfs Roman jedoch zusätzliche Dimensionen. An Kawabata wendet sich Raschid, weil ihm von den arabischen Intellektuellen gar niemand zuhören würde. Denn für sie ist der libanesische Bürgerkrieg vorbei und daher kein Thema mehr. Einer von ihnen ist es, dem er auf der Hamra-Strasse begegnete: ein ehemaliger Freund und Genosse, der sich noch während des Krieges aus der Politik zurückzog und einem islamgefälligen Leben zuwandte, was der Autor nicht an Glaubensinhalten, sondern am Wechsel in der Einstellung Frauen gegenüber deutlich macht. Was Raschid am stärksten bewegt, ist die Tatsache, dass jener sich rühmt, kein Blut an den Händen zu haben – dabei unterschlagend, dass er in der Vorgeschichte des Kriegs sehr wohl zu revolutionärer Gewalt aufgerufen hatte.
So wird «Lieber Herr Kawabata» zu einer schonungslosen Suche nach den Verantwortlichkeiten für all das Leid und die Zerstörung, die der Krieg bedeutet. Im Mittelpunkt steht die marxistische Ideologie mit ihren rhetorischen Leerformeln und ihren Realitätsblindheiten; befragt werden indes auch die Ideologien anderer am Krieg beteiligter Parteien.
Die starke Anbindung dieser Suche an die Person Raschid und deren Gefühlswelt verhindert, dass der Denkprozess selber wieder in ideologisch determinierte Zuweisungen mündet. Der Roman liest sich als Entwicklungsroman mit negativem Ausgang: Raschids Weg endet nicht in der Integration in die libanesische Nachkriegsgesellschaft, sondern in Desillusion, Schuldgefühl und Scham.
Diese Betonung der Hauptfigur und direkte Bezüge zwischen ihr und dem Leben des Autors verstärken den Eindruck autobiographischen Schreibens. Al-Daïf benützt indes eine Reihe von literarischen Techniken, um die Grenze zwischen Autobiographie und Fiktion zu verwischen. So wechselt er beispielsweise laufend zwischen den verschiedenen Diskursen hin und her. Damit wird «Lieber Herr Kawabata» auch zu einem Roman über die diffizile Identität zwischen der traditionellen maronitischen Kultur, dem Marxismus und dem Islam.
Mit «Lieber Herr Kawabata» ist al-Daïf einer der profundesten und künstlerisch überzeugendsten Romane zum libanesischen Bürgerkrieg gelungen. Seine Notwendigkeit und Aktualität könnte grösser nicht sein – angesichts eines rasanten, alle Spuren tilgenden Wiederaufbaus, hauptsächlich der Stadt Beirut.
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